Paul Kester zu Besuch an der Gutenbergschule

Am Mitwoch, den 26. Juni 2019 hat Paul Kester (früher Paul Kleinstraß) als ehemaliger Schüler der Gutenbergschule und Zeitzeuge des Nationalsozialismus den Schülerinnen und Schülern der 9a und 9b von seinem Leben zur Zeit des Nationalsozialismus in Wiesbaden erzählt.

Paul Kester, als Kind jüdischer Eltern 1925 in Wiesbaden geboren, wuchs zunächst „ganz normal“ in einer mittelständischen Familie mit alter Familientradition auf und es war für ihn undenkbar, dass alles einmal anders kommen könnte.

1,5 Millionen jüdische Kinder wurden durch die Nationalsozialisten ermordet – Paul Kester hat überlebt und bezeichnet sich selbst als zu einer Minderheit zugehörig, die einfach Glück gehabt habe. Er empfindet es als seine Aufgabe anderen Menschen von seinen Erlebnissen zu erzählen – und so hat er uns von seinen Kindheits- und Jugenderinnerungen zur Zeit des Nationalsozialismus erzählt.

Paul Kester erinnert sich, dass zur Zeit seiner Kindheit in Wiesbaden viel Armut vorherrschte, Bettler das Straßenbild prägten, es oft politische Unruhen gab und vermehrt Schilder in den Straßen zu sehen waren, auf denen stand: „Die Juden sind unser Unglück.“ , „Die Juden sind schuld, dass wir den Krieg verloren haben.“ Und „Die Juden sind Verbrecher.“ Als Kind hat Paul Kester die Schilder nicht verstanden, denn in seiner Familie gab es ja keine Verbrecher…

1933, dem Jahr der Machtübernahme Hitlers, lebten in Wiesbaden über 3000 Menschen jüdischen Glaubens, bzw. jüdischer Herkunft. Sukzessive wurden in den folgenden Jahren den jüdischen Mitmenschen ihre Rechte entzogen. Paul Kester erinnert sich, dass zwei seiner Cousins nicht mehr studieren durften, arische Haushaltsangestellte nicht mehr in jüdischen Familien arbeiten durften und viele Familienmitglieder seiner Familie beschlossen hatten auszuwandern. Anfangs glaubte niemand, dass alles noch schlimmer werden würde.

Als guter Schüler wollte Paul Kester 1936 nach der Volksschule seine Ausbildung an einem Gymnasium fortsetzen. Nach verschiedenen Absagen an anderen Schulen in Wiesbaden, wurde er schließlich an der Gutenbergschule aufgenommen, die er von 1936 bis 1938 besuchte. An der GBS war auch sein Freund Leo Kahn, ebenfalls ein jüdischer Schüler, der mit ihm die gleiche Klasse besuchte. Leo Kahn war Paul Kesters bester Freund, den er heute noch vermisst.

Die Gutenbergschule beschreibt Herr Kester als gute und anspruchsvolle Schule.
Er und Leo Kahn wurden als jüdische Schüler an der GBS toleriert.
Paul Kester erinnert sich daran, dass im Unterricht „Rassenlehre“ durchgenommen wurde und die jüdischen Merkmale, „krumme Nase, große Ohren und miese Gesichtszüge“ dargestellt wurden, demgegenüber die arische Rasse mit blonden Haaren, eben wie „typische Norweger“ beschrieben wurde.
Paul Kester, zu dem Zeitpunkt 11 Jahre alt, hatte blonde Haare, eine gerade Nase und blaue Augen. Die Lehrer mussten zugeben, dass die beiden jüdischen Jungen nicht so wie in der Rassenlehre dargestellt, aussahen, meinten aber, dass es in der Theorie der „Rassenlehre“ so sei.

Paul Kestner erinnert sich weiterhin, dass seine Klassenkammeraden nach der Schule die Hitlerjugend besuchten und er in einen jüdischen Sportverein ging.

Auch Familie Kleinstraß beschäftigte sich zunehmend mit dem Gedanken auszuwandern. Es war aber schwierig in ein fremdes Land zu gehen, in dem man nicht erwünscht war, die Sprache nicht sprach und keine Arbeit hatte. 1938 wanderte Paul Kesters ältere Schwester im Alter von 14 Jahren zu Verwandten in die USA aus.

Ab dem Sommer 1938 verschärfte sich die Situation für jüdische Menschen und so auch für die Familie Kleinstraß. Am 10. November 1938 wurden Leo Kahn und Paul Kester vom Schulverwalter aufgefordert, wegen der Unruhen in der Stadt die Schule zu verlassen und nach Hause zu gehen. Die Synagoge am Michelsberg stand in Flammen. Vor dem Geschäft von Paul Kesters Vater hatte sich eine Menschenmenge gebildet, die die großen Schaufenster des Geschäfts zerstörte. Paul Kesters Vater wurde verhaftet, konnte fliehen und sich verstecken, bis er nach zwei Tagen wieder zur Familie zurückkehrte, von der Gestapo erneut abgeführt und ins KZ Dachau gebracht wurde.

Paul Kester und seine Mutter räumten das zerstörte Geschäft auf und Paul Kester und Leo Kahn gingen wieder zur Schule. Ab dem 15. November 1938 war es für jüdische Schülerinnen und Schüler nicht mehr möglich, staatliche oder kommunale Schulen zu besuchen.

Somit endete Paul Kesters Schulbesuch an der Gutenbergschule im November 1938.

Während einige Familienmitglieder der Familie Kleinstraß in das KZ Buchenwald oder KZ Sachsenhausen deportiert wurden und auch ein Cousin dort getötet wurde – offizielle Nachricht der Todesursache lautete „an Herzinfarkt gestorben“ -, kam Paul Kesters Vater aus dem KZ Dachau zurück und musste sich fortan wöchentlich bei der Gestapo melden. Als guter und trainierter Sportler hatte Paul Kesters Vater Dachau überstanden.

Weiterhin stellten sich auch die Kleinstraß die Frage, wie sie aus Deutschland herauskämen – solange sie keine Wertsachen mitnehmen würden, wäre es möglich gewesen das Land zu verlassen, allerdings war es nicht so leicht ein aufnehmendes Land zu finden.

Einige europäische Länder waren bereit jüdische Kinder aufzunehmen, so zum Beispiel England, die Niederlande oder Schweden.
Leo Kahn ging nach Amsterdam in die Niederlande zu Verwandten und wurde von dort aus später nach Ausschwitz deportiert, wo er getötet wurde.

Paul Kester gehörte zu den 500 jüdischen Kindern, die Schweden bereit war aufzunehmen. Er bekam ein Visum für Schweden und reiste am 15. Januar 1939 alleine mit dem Zug über Berlin nach Saßnitz und anschließend mit der Fähre nach Schweden. Bei seiner Ausreise wurden sein Geld und ein Buch beschlagnahmt. Als die deutsche Küste am Horizont verschwand, fühlte Paul Kester sich frei.

In Schweden angekommen, wurde Paul Kester von seinen Verwandten empfangen und besuchte dort die Schule bis er 16 Jahre alt war.

Den Kontakt zu seinen Eltern führte Paul Kester über Briefe. Die Post funktionierte gut. Mit Beginn des zweiten Weltkriegs am 1. September 1939 wurde die Post zwischen Schweden und Deutschland kontrolliert und zensiert. Paul Kester erinnert sich, dass man aufpassen musste, was man schrieb und dass Bemerkungen über die Lebensverhältnisse in Deutschland zensiert wurden. Viele Jahre später, als er längst in den USA lebte, wollte er mit einer speziellen Methode herausfinden lassen, was in den zensierten Textpassagen der Briefe stand, die er allesamt aufgehoben hatte. Die zensierten Textpassagen waren chemisch eliminiert und ein Beispiel, so Paul Kester, für „deutsche Gründlichkeit“.

Im August 1942 schrieben Paul Kesters Eltern, dass sie Wiesbaden verlassen müssten – voraussichtlich nach Theresienstadt. Auch während der Inhaftierung in Theresienstadt, hatte Paul Kester Kontakt zu seinen Eltern. Die Post funktionierte weiterhin, denn „Ordnung muss sein“. Sechs Zeilen mit unbedeutendem Inhalt waren erlaubt.

Ein halbes Jahr später kam Paul Kesters Post, die an seine Eltern adressiert war, mit der Nachricht „abgereist“ wieder zurück. Erst später hat Paul Kester erfahren, dass seine Mutter und sein Vater von Theresienstadt nach Ausschwitz deportiert und dort direkt vergast wurden. Paul Kesters Großmutter ist in Theresienstadt verstorben – auch sie war für einen Transport nach Ausschwitz vorgesehen.

Paul Kester erlebte das Kriegsende im Mai 1945 mit gemischten Gefühlen. Er hatte viel verloren und zugleich die Möglichkeit, sein Leben wiederaufzubauen.

1946 fuhr Paul Kester erstmals in die USA, wo er seine Schwester und andere Verwandte wiedersehen konnte.

1947 reiste Paul Kester von Schweden mit einem Freund in die Niederlande. Auf ihrer Reise durchquerten sie mit dem Zug Norddeutschland mit Landschaften von endlosen Ruinen. Sie reisten auch nach Wiesbaden und er suchte die alte Wohnung seiner Familie auf. Alles war so, wie seine Familie es verlassen hatte. Die damalige Mieterin war nicht begeistert ihn zu sehen, gab ihm etwas Geld, aber letztendlich hatte Paul Kester kein Interesse an den Gegenständen – es waren die Menschen, die ihm fehlten.

1948 wanderte Paul Kester zusammen mit seiner Frau, die ursprünglich aus Berlin stammte, nach Los Angeles in die USA aus. Dort lebt Herr Kester bis heute.

Am Ende seiner Erzählung wandte Herr Kester sich mit den folgenden Wünschen an die zuhörenden Schülerinnen und Schüler:

  • –  Schätzt es, in einem freien Land in Demokratie zu leben!
  • –  Hasst keine anderen Menschen, auch wenn sie anders aussehen!
  • –  Zeigt, dass ihr tolerant seid!

 

Paul Kester bedankte sich, dass er bei uns an der Schule sprechen durfte und forderte die Schülerinnen und Schüler auf, Fragen zu stellen.

Auf die Frage …

…. nach seinen Gefühlen bei seiner Auswanderung nach Schweden antwortete Herr Kester, dass er einerseits traurig war, nicht mit seiner Familie auswandern zu können, aber andererseits auch froh war nach Schweden zu können. Insgesamt konnte er sich gut auf die neue Situation in Schweden einlassen und hatte sich schnell eingewöhnt.

… ob er als Jude heute Schwierigkeiten habe, antwortete Herr Kester, dass er in den USA keine Probleme habe, es als Kind für ihn in Deutschland aber schwer gewesen sei. In den USA ist er aktiv in vielen jüdischen Organisationen und erzählt auch an amerikanischen Schulen von seinen Erlebnissen.

… ob er nicht manchmal Hass gegenüber den Deutschen empfindet, antwortete Herr Kester, dass er die Nazis nur hassen konnte, da sie schließlich seine Familie und Freunde getötet hatten. Er aber nicht alle Deutschen gehasst hat. Auf seiner ersten Reise in Deutschland nach dem Zeiten Weltkrieg hat er sich sehr fremd gefühlt, weil er nie wusste, was die Menschen, denen er begegnete, getan hatten. Herr Kester betonte, dass die jungen Deutschen nicht schuldig seien für das, was ihre Großeltern getan hätten, sie seien es aber schuldig, ihre Geschichte zu kennen und dem Grundgesetz zu folgen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar!“

… ob es ihm schwerfalle, seine eigene Geschichte zu erzählen, antwortete Herr Kester, mit nein. Er meinte, er empfinde es als seine Verpflichtung, seine Geschichte zu erzählen.

… ob er Wiesbaden als sein zu Hause betrachten würde, antwortete Herr Kester, dass Wiesbaden seit 1939 nicht mehr sein zu Hause sei. Während er bei seinem ersten Besuch nach dem Krieg Wiesbaden als tote Stadt wahrgenommen hat, empfindet er sie heute als eine lebendige Stadt, in der er gerne seine Geschichte erzählt.

… welchen Sport er ausübt, antwortete Herr Kester, dass er in seiner Jugend geturnt habe, geschwommen ist und Leichtathletik gemacht habe. Auch heute macht er noch regelmäßig Gymnastik, fährt auf seinen Heimtrainern Fahrrad und macht Jogging. Bis zu seinem 80sten Lebensjahr ist er noch Ski gefahren – dies hat er dann aus Gründen der Vernunft aufgehört.

… wo er die Unterschiede zwischen der Gutenbergschule früher und heute sieht, antwortete Herr Kester, dass ein großer Unterschied sei, dass jetzt auch Mädels auf der Schule sind und dies findet er bedeutend angenehmer. Außerdem sei es viel freier an der Schule und es gäbe keinen „Kadavergehorsam“ mehr.

Abschließend sagte Herr Paul Kester, dass die Schülerinnen und Schüler ihre Freiheit genießen sollen und sich ihrer bewusst sein sollen.

Wir danken Herrn Kester ganz herzlich, dass er sich für uns Zeit genommen hat und uns sehr offen und sehr beeindruckend bei hohen sommerlichen Temperaturen zwei Schulstunden lebendig von seinen Erlebnissen als verfolgtes jüdisches Kind erzählt hat.

Ebenso möchten wir Frau Inge Neumann, ehemalige Lehrerin der GBS und Mitarbeiterin des Museums Spiegelgasse danken, dass sie den Kontakt zu Herrn Kester hergestellt hat und wir somit die Gelegenheit hatten, Herrn Kester zuhören zu können.

Wir waren alle sehr gerührt von der Begegnung mit Herrn Kester.

(Autorin: B. Boczki)